Hör dir „Moral Panic“ von Nothing But Thieves an
Nothing But Thieves
Moral Panic
Album · Alternative · 2020
Sollte jemand befürchtet haben, die raue Gitarren-Power auf der 2018er-EP „What Did You Think When You Made Me This Way?“ habe einen nachhaltigen Einschnitt im Sound von Nothing But Thieves markiert, der wird mit „Moral Panic“ eines Besseren belehrt. Das dritte Album der fünfköpfigen Band aus Southend-on-Sea bemüht sich wieder vermehrt um die genreübergreifenden Blaupausen früherer Veröffentlichungen und erstreckt sich in einer das Nervensystem anregenden Fusion aus Drum 'n' Bass über Hard-Rock-Stücke wie dem Opener „Unperson“ bis hin zu sanftmütigen Ibiza-Dance-Pop-Abschweifungen in „There Was Sun“. „Am Anfang wollten wir bloß herausfinden, was uns als Musiker und Songwriter ausmacht“, erzählt Gitarrist Joe Langridge-Brown Apple Music und fügt an: „Für uns war es ein glücklicher Zufall, gleich von Beginn an diese Klangbreite zu haben. Andere Bands stehen vor ihrem dritten Album und limitieren sich bereits auf einen gewissen Sound, aus dem es schwer ist, wieder auszubrechen.“ Inmitten einer wandelbaren Sound-Melange befinden sich nunmehr Lyrics, die die rapide Zustandsverschlechterung der Welt im Jahr 2020 verhandeln – und denen dabei wie immer durch die Stimmgewalt von Frontmann Conor Mason Ausdruck verliehen wird. „‚Moral Panic‘ entstand, als Joe auf Twitter durchdrehte“, erinnert sich Mason und stellt fest: „Im Grunde beobachten wir, wie die Welt zusammenbricht. Wir alle wussten, dass das unser Thema auf dem Album werden würde. Auch, um das alles nicht unkommentiert zu lassen.“ Track für Track nehmen uns Mason, Langridge-Brown sowie Gitarrist und Keyboarder Dominic Craik im Folgenden mit auf ihre Reise.

Unperson
Dominic Craik: „Diesen Song haben wir als Letztes geschrieben. Er war das fehlende Puzzlestück. Ich habe mich im Umkleideraum eingeschlossen und mit einer neuen Störeffekt-Software herumexperimentiert. Raus kam ein bloß 30-sekündiger Loop, doch wurde er prompt zum Fundament von ‚Unperson‘. Zu der Zeit haben wir eine Menge Breakbeat-Zeugs wie The Prodigy, aber auch anderen Crossover gehört, der Hardcore mit Elektro-Rock zusammenführt, und da fragten wir uns: ‚Wie klänge wohl unsere Version davon?‘“

Is Everybody Going Crazy?
Conor Mason: „Wir drei haben solch verschiedene Geschmäcker, dass wir mit einzelnen Versatzstücken unserer musikalischen Vorlieben jedes Mal etwas völlig Eigentümliches kreieren. Dieser Song bildet unsere gemeinsame Schnittmenge ab. Am Anfang hatte der Track noch diesen T. Rex-Einfluss, doch dann dachten wir: ‚Wie können wir uns möglichst davon frei machen?‘ Dem Pre-Chorus haben wir deshalb einen R&B-Touch eingehaucht, bevor alles in einen poppigen Refrain übergeht. Wir wollten, dass jeder einzelne Songabschnitt eine eigene Identität bekommt – alle sollten in ihrer eigenen Welt existieren.“
Joe Langridge-Brown: „Die Grenzen, die hier zwischen den Genres verwischen, sind vermutlich das Aufregendste. Wir wollten uns dabei bis ans Äußerste vortasten.“

Moral Panic
JL-B: „Hierin geht's um den Klimawandel. Der Song wurde geschrieben, als es gerade mit der Extinction Rebellion losging. Ich finde es wirklich spannend, dass die Bewegung jugendlich motiviert ist. Der Begriff ‚moral panic‘ [dt.: „moralische Panik“] bezieht sich auch auf viele andere Dinge, doch in dem Song geht’s explizit um den Klimawandel.“
CM: „Für mich klingt er wie ein pessimistischer Hall & Oates-Song. Und wenn dich jemand fragt, ob du einen pessimistischen Hall & Oates-Song hören willst, dann sagst du natürlich nicht nein.“

Real Love Song
DC: „Wir waren in Malaysia, wo du im Radio andauernd Schnulzen und Balladen hörst. Ein Interviewer meinte zu uns: ‚Von euch gibt's ja nicht so viele Liebeslieder...‘, woraufhin ich nur erwidern konnte: ‚Na ja, wir haben schon so ein paar...aber ja, vermutlich hast du Recht.‘ Ich habe mir immer eingebildet, ich sollte keine schreiben, weil es offensichtlich zu viele gibt. Dann aber dachte ich: ‚Okay, hier geht’s um wirklich wahre Liebe fernab aller klischeehaften Hollywood-Lovesongs...‘ Doch es beinhaltet auch einen Song im Song, in dem es um die Ironie all der vielen Liebeslieder geht, die gar nicht von dem handeln, was sie uns vorgaukeln wollen.“

Phobia
JL-B: „Ich frage mich, wie der Song wohl bei den Leuten da draußen ankommt, denn es geht um ein ziemlich fehlerbehaftetes Individuum. Im Song steht absolut nichts zwischen den Zeilen. Die meiste Zeit klammern wir uns an ein Ideal, wonach es uns ziemlich erstrebenswert erscheint, über Leute zu schreiben, die in Schwierigkeiten sind.“
CM: „Als der Song entstand, haben uns Hip-Hop und R&B ziemlich krass beeinflusst, und diese hauchenden, intimen Vocals waren etwas, an dem wir uns auf jeden Fall mal ausprobieren wollten. Im Zusammenspiel mit der Musik und den Lyrics hat das erstaunlich gut gepasst. Die noch mal zu lesen, fühlt sich düster an – als würden sich deine inneren Dämonen offenbaren, während du über sie sprichst. Aber anstatt sie anzuschreien, versuchst du, ihnen selbst Angst zu machen.“

This Feels Like the End
DC: „Hierzu haben uns The War on Drugs inspiriert, doch spätestens im Refrain verlassen wir uns voll und ganz auf unseren ganz eigenen Nothing But Thieves-Sound, wie man ihn zum Beispiel von [der 2017 erschienenen Single] ‚Amsterdam‘ kennt.“
JL-B: „Ich hatte den Refrain schon seit Wochen im Kopf, wusste aber nicht, ob er sich noch weiterentwickeln würde, weshalb ich nur noch drauf wartete, zurück ins Studio zu können, um mit den Jungs daran zu arbeiten. Nachdem wir uns schon längst auf einen Zwischenteil mit simplem Riff geeinigt hatten, kam mir noch die Idee, eine Rede drüber zu legen. Die hab ich dann geschrieben und wir haben verschiedene Menschen in L.A. vorsprechen lassen. Dieser Sandy, der es dann wurde, hat's punktgenau getroffen.“

Free If We Want It
JL-B: „Um ehrlich zu sein, ist ‚Free If We Want It‘ mein absoluter Lieblingssong von uns. Ich bin riesiger Fan von Tom Petty und irgendwie hat der Song was von seinem vagabundartigen, freiheitsliebenden Drive. Die verschiedenen Abschnitte fließen hier völlig nahtlos ineinander, was für uns nicht gerade typisch ist – vor allem, wenn wir herumexperimentieren. Es ist wichtig, auf einem so lyrisch düsteren Album auch den ein oder anderen Lichtblick zu haben.“
CM: „Hier habe ich all mein Herzblut reingesteckt.“

Impossible
JL-B: „Dom hat den Song gerettet. Lange haben wir versucht, ihn gemeinsam zu schreiben, sind aber immer wieder daran verzweifelt, herauszufinden, was wir damit eigentlich ausdrücken wollen. Dom hat ihn dann beiseite genommen und an komplett anderen Akkorden für den Refrain gearbeitet. Plötzlich wussten wir: ‚Oh, das ist es!’ Im Grunde standen wir kurz davor, den Track abzusägen.“

There Was Sun
CM: „Diesem Track haben wir uns als Letztes gewidmet, alles andere wollten wir schon vorher fertig haben. Wir sind richtig stolz drauf, was dabei rumgekommen ist, denn am Anfang waren wir uns dessen selbst nicht so recht bewusst. Wir waren von Beginn an von der Melodie und den Lyrics angetan und dachten: ‚Hierin verbirgt sich irgendwo ein Song, aber wir wissen nicht, wie wir an ihn rankommen können.“
DC: „An dem Tag, als wir den Song aufnahmen, stand das Wort ‚psychedelic’ [dt: psychedelisch, bewusstseinserweiternd] im Raum. Nicht buchstäblich – F**k, wir kommen ja selbst im nüchternen Zustand kaum klar. Doch gleich die Demoversion besaß schon so einen Hauch von ABBA, was wir dann aufgegriffen und woraus wir einen ABBA-Song mit psychedelischem Daft Punk-Einschlag geschustert haben.“

Can You Afford to Be An Individual?
DC: „[Der Übergang] von ‚There Was Sun’ zu ‚Individual’ ist meine Lieblingsstelle auf dem Album. Direkt nachdem wir den Track geschrieben hatten, dachten wir bereits: ‚Okay, das klingt ziemlich gut.‘ Das Riff haben wir auf Tour in Portland geschrieben und anschließend Conors Vocals mit dieser neuen Software zerstückelt.“
CM: „Ich glaube, genau so sind auch die Lyrics entstanden, also durch das Zerstückeln der Vocals. Es gibt gute Gründe, warum ich mich während der Aufnahmesessions völlig zurückziehe – das liegt daran, weil ich komplett ausraste. Bei diesem Song konnte ich so richtig unter die Decke gehen.“

Before We Drift Away
CM: „Der Song passt auch gut, um ein Set zu beenden. 2015 haben wir Blur gesehen und sie haben als Letztes ‚Tender‘ gespielt, welcher unserem Song vom Gefühl her ähnelt. Sobald wir ihn stehen hatten, wussten wir: ‚Von was auch immer – das hier ist das Ende.‘“
JL-B: „Ein Album abzuschließen, das ‚Moral Panic‘ heißt und auf dem es vor allem darum geht, sich durch seine äußeren Wahrnehmungen gebeutelt zu fühlen, zieht zwangsläufig auch entsprechende Reflexionen nach sich. Dass die letzte Zeile, die hier nun zu hören ist, ausgerechnet ‚I don’t want to grow old‘ lautet, ist meiner Meinung nach auch sehr aussagekräftig.“

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