Listen to Brahms: Symphonies by Chamber Orchestra of Europe & Yannick Nézet-Séguin
Chamber Orchestra of Europe & Yannick Nézet-Séguin
Brahms: Symphonies
Album · Klassik · 2024
Yannick Nézet-Séguin war zwölf Jahre alt, als er „Ein deutsches Requiem“ sang und sich in Johannes Brahms verliebte, erzählt er Apple Music Classical. Er begann, andere Werke von Brahms zu erkunden, und entdeckte einen Komponisten, der die tiefsten menschlichen Emotionen durch wunderbar strukturierte Musik auslotete – eine Hommage an die großen Traditionen von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven. „Brahms’ Musik ist die ideale Repräsentation der Balance zwischen Herz und Verstand“, sagt Nézet-Séguin, „und ich habe das Gefühl, dass ich jetzt erfahren genug bin und vielleicht auch als Künstler und Mensch reife, um diesem Gleichgewicht näherzukommen.“ „Manchmal streben die Menschen so sehr nach der formalen Schönheit der Musik, dass sie ein wenig kalt und distanziert wirkt“, fügt Nézet-Séguin hinzu. „In meinem Fall war es wohl so, dass ich zu sehr am anderen Ende des Spektrums war, als ich vor 20 Jahren begann, Brahms-Sinfonien zu dirigieren. Ich konzentrierte mich möglicherweise zu sehr auf die expressive Seite seines Werks.“ In seinem kompletten Zyklus der Brahms-Sinfonien, der in Baden-Baden mit dem Chamber Orchestra of Europe live aufgenommen wurde, hat Nézet-Séguin beschlossen, dieses Gleichgewicht herzustellen. Dazu forderte er seine Musiker:innen auf, sich vorzustellen, Kammermusik zu spielen. „Ich dachte, es wäre schön, die gleiche Freiheit beim Spielen der Sinfonien zu spüren, als wenn wir in einem Quartett spielen“, sagt Nézet-Séguin. Das Ergebnis sind Darbietungen, die leicht und klar wirken, wobei jede:r Spieler:in offenbar auf jedes noch so kleine Detail achtet. Obwohl sie für ein großes Orchester geschrieben wurden, stammen Brahms’ Sinfonien aus einer späten Phase seiner Karriere, in der er einen „Weniger ist mehr“-Ansatz wählte. Er hätte auch dem Beispiel seiner Zeitgenossen Franz Liszt, Richard Wagner oder Hector Berlioz folgen können, die alle die Möglichkeiten des Orchesters erweiterten und riesige dramatische Werke schufen. Stattdessen bevorzugte es Brahms, ebenso tiefgründige Gefühle mit kleineren, traditionelleren Besetzungen und bewährten Kompositionsstrukturen auszudrücken. Klassische Bescheidenheit trifft auf romantische Leidenschaft. „Brahms ist sehr, sehr konventionell instrumentiert“, erklärt Nézet-Séguin. „Die Tuba kommt nur in der Zweiten Sinfonie vor, eine Triangel gibt es nur einmal in der Vierten, und das war’s. Die Posaunen werden in der Zweiten Sinfonie häufiger eingesetzt, in der Dritten dagegen nicht so oft. Und in der Vierten kommen sie wie in der Ersten Sinfonie erst am Ende zum Einsatz. Auch die Pauken und Trompeten stehen im Gegensatz zu dem, was andere Komponist:innen zu dieser Zeit entwickelt haben.“ Bei ihrer Uraufführung im Jahr 1876 wurde Brahms’ „Sinfonie Nr. 1“ als „Beethovens Zehnte“ gefeiert. Nézet-Séguin ist sich dieser Verbindung zu Beethoven bewusst, allerdings auf eine andere Art und Weise. „Im Augenblick stelle ich mir Brahms’ Erste als eine weitere Möglichkeit vor, Beethovens Weg nach der Fünften Sinfonie fortzusetzen“, meint er. „Es ist fast so, als hätte Beethoven seine ‚Pastorale‘ nicht geschrieben und hätte stattdessen einen anderen Weg eingeschlagen.“ Mit der „Sinfonie Nr. 2“ unterstreicht Nézet-Séguin die emotionalen Ambivalenzen des Werks. Natürlich, im finalen Allegro con spirito ist die Freude groß, doch der erste Satz ist vielschichtiger. „Es gibt Sonnenschein, aber niemals ausschließlich; normalerweise sind immer ein paar Wolken dazwischen. Es ist wunderschön, wie die Natur eben ist. Und es ist nie nur eine Färbung oder ein Farbton – es sind alle Schattierungen und Farben auf einmal.“ Die „Sinfonie Nr. 3“, sagt Nézet-Séguin, sei Brahms’ geheimer Garten. „Der Anfang ist so großartig und unglaublich heroisch in seinem 6/4-Takt; aber dann hast du zügig den Eindruck, dass du einen Wald oder Garten betrittst, bei dem du unter die Blumen, und Blätter schauen möchtest – also unter das, was man zuerst sieht und hört.“ Die Vierte, die intim beginnt und immer leidenschaftlicher wird, ist ein seltenes Beispiel für eine Moll-Sinfonie, die auch in Moll endet und nicht in einem fulminanten Dur-Feuerwerk, wie es bei Sinfonien vor und sogar nach Brahms üblich war. „Das Publikum hätte ein Happy End erwartet“, sagt Nézet-Séguin, „aber das hatte Brahms nicht im Sinn!“ Der nachdenkliche Schlusssatz der „Sinfonie Nr. 4“ ist vielleicht das typischste Werk von Brahms. Als barocke Passacaglia strukturiert, besteht er aus 30 Variationen über eine wiederkehrende Basslinie und zeigt sowohl die Liebe des Komponisten zu Form und Kontrapunkt als auch seine meisterhafte Orchestrierung. Innerhalb von zehn kurzen Minuten zaubert Brahms eine beeindruckende Bandbreite an Dynamik und Stimmungen hervor. „Von allen Komponist:innen war Brahms wohl der kompetenteste in Bezug auf die Musikgeschichte vor ihm“, sagt Nézet-Séguin. „Er kannte die Musik der Renaissance und sammelte Werke wie die von Jean-Philippe Rameau und François Couperin. Er kannte alles von Bach und war sich Bachs Platz in der Geschichte bewusst.“ Zweifellos trug die Atmosphäre von Baden-Baden zur besonderen Energie dieser fesselnden Aufführungen bei, sagt Nézet-Séguin. Schließlich liebte Brahms die idyllische Kur- und Bäderstadt so sehr, dass er dort ein Haus besaß und zwischen 1865 und 1874 Sommer für Sommer zurückkehrte, um sich zu erholen und sich zu vielen seiner größten Werke inspirieren zu lassen. „Ich habe viel mit den Musiker:innen darüber gesprochen“, erinnert sich Nézet-Séguin, „und alle machten Spaziergänge, besuchten Brahms’ Haus und atmeten die Baden-Badener Luft ein. Es war etwas ganz Besonderes, dort zu sein – vor allem wegen dieser Musik.“

Tracklist for Brahms: Symphonies by Chamber Orchestra of Europe & Yannick Nézet-Séguin

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